Die neue Vierbeinschlange - Eine Sensation des Unscheinbaren

Schlange 1

Ein britisch-deutsches Wissenschaftlerteam entdeckte das erste Fossil einer Schlange mit vier Beinen. Dieses ermöglicht einen faszinierenden Einblick in die Evolution und Lebensweise der Schlangen vor 120 Millionen Jahren. Die Gemeinde Solnhofen ist als Trägerin des Museums stolz darauf, diesen bedeutsamen Beleg für die Evolution der Schlangen aus vierbeinigen Vorfahren für die Wissenschaft aufzubewahren und ihren Museumsbesuchern zeigen zu können. Dazu sagt der wissenschaftliche Direktor des Museums, Dr. Martin Röper: „Die erneute Hinwendung auf wichtige Zeugen der Evolution fußt auf der Bedeutung der drei Originale der Archaeopteryx-Familie, die im Museum Solnhofen zusammen mit dem befiederten Raubdinosaurier Sciurumimus aktuell zu sehen sind.“ Dr. Martin Röper garantiert als wissenschaftliche Institution die permanente Zugänglichkeit sämtlicher Holotypen und sonstiger Originale mit Museum zum Zwecke des wissenschaftlichen Vergleichs gegenüber Wissenschaftlern aus aller Welt. Die Garantie gilt nunmehr auch das neue Fossil aus Brasilien, das der Museumsdirektor für eine wissenschaftliche Bearbeitung und Bewahrung zugänglich machte. Platte und Gegenplatte des Originals sind im Museum ausgestellt.

 

Das nur etwa zwanzig Zentimeter große Fossil entstammt Gesteinsschichten der Crato-Formation aus der frühen Kreidezeit von Brasilien. Die Gesteinsformation erinnert an die Solnhofener Plattenkalke. Der in seiner Bedeutung lange verkannte Fund stammt aus einer alten deutschen Fossiliensammlung. Man hielt das kleine, unscheinbare und teils noch gesteinsbedeckte Fossil für einen unvollständigen Fossilrest. Anlässlich einer Brasilien-Sonderausstellung im Museum Solnhofen untersuchten die Forscher Martill und Tischlinger die Gesteinsplatte näher und, nachdem sie die überdeckenden Gesteinsschichten entfernt hatten, war ihnen klar, dass hier ein unglaublich wichtiger Fund vorlag. Die Paläontologen Dave Martill (Portsmouth, GB), Helmut Tischlinger (Stammham, BRD) und Nick Longrich (Bath, GB) veröffentlichen ihre Studie am 24.7.2015 im Wissenschaftsmagazin Science. Das Schlangenfossil erhielt den Namen Tetrapodophis amplectus. Der Gattungsname Tetrapodophis („Vierbeinschlange“) bezieht sich auf die Vierbeinigkeit des Tieres.

 

Trotz der vier Gliedmaßen handelt es sich eindeutig um eine Schlange. Dafür sprechen unter anderem der ausgesprochen langgestreckte Körperbau, die sehr hohe Anzahl von Wirbeln sowie der im Vergleich zur Gesamtkörperlänge kurze Schwanz, querverlaufende Bauchschuppen, Knochendetails der Rippen und der Wirbel, der Schädelbau und die spitzen, gekrümmten Zähne. Es handelt sich um ein Jungtier, ausgewachsene Exemplare wurden vermutlich deutlich größer.

 

Dr. David Martill sagt: „Auf den ersten Blick glaubt man, ein echtes Schlangenfossil vor sich zu haben, aber dann sieht man die winzigen Vorder- und Hinterbeine und beginnt, die enorme wissenschaftliche Bedeutung dieses Fundes zu erahnen. Bisher hatte man zwar vermutet, dass die Schlangen von vierbeinigen Eidechsen-ähnlichen Vorfahren abstammen könnten, aber noch nie war so ein Fossil entdeckt worden.“

 

Dr. Helmut Tischlinger sagt: „Die kleine Schlange ist vollständig überliefert und von geradezu unglaublicher fossiler Erhaltungsqualität. Man erkennt jedes Detail der Knochenbeschaffenheit, dazu noch die für Schlangen typischen Bauchschuppen und sogar die Luftröhre und den Mageninhalt mit den Knochenresten eines gefressenen kleinen Wirbeltiers, das durch Umschlingen erbeutet wurde. Die Schlangen lebten also bereits zu Beginn ihrer Entwicklung räuberisch.“

 Schlange 2

Dr. Nick Longrich sagt: „Wann genau die Schlangen ihre Beine verloren, wissen wir nicht. Aus der Zeit vor etwa 100 Millionen Jahren kennen wir Schlangenfossilien, die keine Vorderbeine, aber noch sehr kleine Hinterbeine besaßen. Bei der „Vierbeinschlange“ Tetrapodophis waren die Vorderbeine bereits stark zurückgebildet. Möglicherweise stellten sie eine gewisse Hilfe beim Festhalten der Beute oder beim Graben dar.“

Mit dem neuen Fund kommt eine bisher von manchen Wissenschaftlern favorisierte Theorie ins Wanken, wonach die Vorfahren der heutigen Schlangen sich aus meereslebenden Reptilien entwickelten. Die „Vierbeinschlange“ zeigt keinerlei Anpassungen an ein Wasserleben und lässt vermuten, dass sich die heutigen Schlangen aus landlebenden vierbeinigen Vorfahren durch allmähliche Rückbildung der Beine entwickelten.

 

Fotos: Helmut Tischlinger

Lebensbildrekonstruktionen: Julius Csotonyi und James Brown

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